„Vom Menschen zur Nummer“ – Webinar zum Häftlingsalltag im KZ Flossenbürg

Eine Jahrgangsstufe des Otto-Hahn-Gymnasiums setzt sich virtuell mit dem Häftlingsalltag im KZ Flossenbürg auseinander.

von Sebastian Nolda

„Sehr interessant“, „spannend“, „mal was anderes“ – so das Feedback vieler Jugendlicher nach einer Veranstaltung mit der KZ-Gedenkstätte Flossenbürg in der ersten Märzwoche, die für die Neuntklässler des Otto-Hahn-Gymnasiums Marktredwitz in jedem Jahr auf dem Programm steht.

Und das aus gutem Grund, denn die Beschäftigung mit dem Nationalsozialismus ist im Lehrplan dieser Jahrgangsstufe fest verankert. Dort heißt es: „Die Schülerinnen und Schüler erkennen den Wert des Engagements für unsere freiheitliche demokratische Grundordnung, indem sie sich mit Ideologie, Ausformung und Folgen des nationalsozialistischen Terrorregimes und dessen menschenverachtendem Charakter auseinandersetzen, u. a. im Rahmen einer historischen Exkursion zu einer Gedenkstätte für die Opfer des Nationalsozialismus.“

Wohin eine solche Exkursion gehen soll, ergibt sich für das Otto-Hahn-Gymnasium aus der räumlichen Nähe: natürlich zur KZ-Gedenkstätte in Flossenbürg. Seit einigen Jahren können die Schülerinnen und Schüler dort am Programm des „Aktivierten Rundgangs“ teilnehmen, bei dem sie sich in Arbeitsgruppen auf spezielle Aspekte der KZ-Geschichte vorbereiten, die sie dann vor Ort in Flossenbürg den Mitschülern auf dem Gelände der Gedenkstätte präsentieren.

Diese Gestaltung der Exkursion wurde in den letzten Jahren zu einem festen Bestandteil der historischen Bildung am Otto-Hahn-Gymnasium. Doch dann kam die Corona-Pandemie und stellte das gewohnte Programm in Frage: Der Bustransfer nach Flossenbürg und die Gruppenführungen? Ein Infektionsrisiko. Die Gedenkstätte? Für den Besuch geschlossen oder nur sehr eingeschränkt zugänglich. Wie sollte man dieses Thema unter den gegebenen Umständen vermitteln?

Auf der Suche nach neuen Konzepten kam ein Angebot der Gedenkstätte wie gerufen: ein Webinar über den Häftlingsalltag im KZ Flossenbürg. Webinare oder über das Internet abgehaltene Seminare sind das in der Pandemie bevorzugte Bildungsmedium, bei dem sich Inhalte in Videokonferenzen – ohne jede Ansteckungsgefahr – an viele Teilnehmer vermitteln lassen. Für dieses Medium habe man eigens neues didaktisches Material erarbeitet, so Lisa Herbst und Johannes Lauer von der Bildungsabteilung der Gedenkstätte, die ihr Programm allen Schulen kostenlos anbieten.

Nach der Buchung der Webinare für die vier 9. Klassen mussten noch organisatorische Fragen geklärt werden: Auf welcher Videokonferenz-Plattform sollten die Veranstaltungen stattfinden? Dafür konnte man am Gymnasium in Marktredwitz das System BigBlueButton (BBB) zur Verfügung stellen, das im Rahmen des Schulmanagers auch für den eigenen Distanzunterricht genutzt wird. Um die Verwendung dieses Systems und den Ablauf der Webinare zu besprechen, verabredeten sich die zuständigen Lehrkräfte im Vorfeld mit Frau Herbst und Herrn Lauer zu einer „Testkonferenz“. Dabei wurde auch die Vorbereitung auf Seiten der Schüler besprochen. Im Geschichtsunterricht hatten diese bereits Einblick in wichtige Aspekte des Nationalsozialismus erhalten. Nun sollte ihnen das didaktische Material der Gedenkstätte zur Verfügung gestellt werden.

Der Titel „Vom Menschen zur Nummer“ verdeutlicht schon einen inhaltlichen Schwerpunkt der 90-minütigen Webinare: Es geht um den Verlust von Einzigartigkeit und Unterscheidbarkeit in der KZ-Haft. Als Hinführung diente den beiden Moderatoren jedes Webinars ein interaktiver Einstieg, bei dem sich die Schüler zu einer ihnen bekannten Person überlegen sollten: „Wodurch unterscheidet ihr euch äußerlich? Worin unterscheiden sich eure Interessen?“ In einem visualisierten Brainstorming zeigte sich daraufhin, wie sehr sich Jugendliche ihrer Verschiedenheit im Erscheinungsbild und Charakter bewusst sind: kurze oder lange Haare, ernst oder lustig. Daraufhin wurden Fotos von ehemaligen KZ-Häftlingen aus der Zeit vor ihrer Haft präsentiert. Auch hier finden sich viele Unterscheidungsmerkmale: Die abgebildeten jungen Männer erscheinen förmlich-zurückhaltend oder lässig und selbstbewusst – so individuell wie heutige Jugendliche.

Zur Einführung in die Geschichte des Konzentrationslagers in Flossenbürg sahen die Neuntklässler danach einen kurzen Film, der über den Granitsteinbruch als Anlass für die Lagergründung, über die Organisation des Haftalltags, die Rolle der SS und die Opfer der Lagerhaft informiert. Daraufhin wurden den Schülerinnen und Schülern noch einmal die bereits bekannten jungen Männer präsentiert – nun aber ergänzt durch Fotos aus der Zeit während bzw. nach ihrer KZ-Haft, wodurch ein Vergleich möglich wurde. Die Jugendlichen sollten sich nun die Frage stellen: „Was geht den Menschen, die ins KZ kamen, verloren? Was bleibt ihnen noch?“ Bei der Sammlung der Ergebnisse auf dem Whiteboard fanden sich auf der Verlustseite viele Aspekte wie „Besitz“, „Beruf“, „Freunde“ und „Name“ – auf der Habenseite nur Weniges wie „Erinnerung“ und „Hoffnung“.

Im Anschluss daran setzten sich die Neuntklässler mit verschiedenen Aspekten des Häftlingsalltags auseinander („Ankunft im KZ“, „Hygiene“, „Ernährung“, „Arbeit im Steinbruch“, „Gewalt und Terror“). Dazu wurden sie in Gruppen mehreren virtuellen „Breakout-Räumen“ zugeteilt, wo sie für 20 Minuten ihr jeweiliges Thema besprechen konnten.

Die dabei verwendeten Arbeitsblätter der Gedenkstätte stellen immer ein zentrales Bild in den Mittelpunkt der Gruppenarbeit. Es handelt sich um Zeichnungen von Häftlingen, die typische Situationen aus dem KZ-Alltag zeigen: die Misshandlungen nach der Ankunft im Lager, die Enge in der Häftlingsbaracke, die verzweifelte Suche nach Essbarem, die zerstörerische Wirkung der Zwangsarbeit sowie die Hinrichtungen beim täglichen Appell. Um sich in die Situation der abgebildeten Personen hineinzuversetzen, sollten die Jugendlichen ins Bild eingefügte Sprechblasen ausfüllen und darin mögliche Gedanken, Gefühle oder auch Aussagen wiedergeben. Daraufhin konnten sie ihre ersten Eindrücke durch Hintergrundinformationen und Zeitzeugenberichte vertiefen. Zum Abschluss sollten sie sich überlegen, weshalb die dargestellte Situation im KZ für die Häftlinge demütigend und entmenschlichend gewesen ist.

Nach dem Ende der Gruppenarbeit kehrten alle Neuntklässler wieder in den „Gemeinschaftsraum“ der Videokonferenz zurück. Die zentralen Bilder aus der Gruppenarbeit wurden nun der ganzen Klasse gezeigt. Dazu erläuterten die Sprecher der Gruppen die jeweilige Situation auf dem Bild, lasen die Texte der Sprechblasen vor und präsentierten die Ergebnisse zu ihrem Thema. Die beiden Moderatoren nutzten die Gelegenheit, um weitere Aspekte zu ergänzen oder Fragen der Jugendlichen zu beantworten.

Am Ende jedes Webinars stand die Frage: Wie konnte man als Gefangener die KZ-Haft psychisch überstehen? Zur Veranschaulichung diente noch einmal das Bild zum Thema „Hygiene“, das eine Szene in einer Häftlingsbaracke zeigt. Beim anschließenden Brainstorming wurden Formen der Selbstbehauptung gesammelt: das Gespräch mit einem Mitgefangenen, das Ordnen der wenigen Habseligkeiten oder ein (von der SS verbotenes, aber dennoch heimlich angefertigtes) Kartenspiel, das einen Moment der Zerstreuung ermöglicht. Als Ergänzung verdeutlichte ein Zeitzeugenbericht von Marie-Thérèse Fainstein, wie wichtig das regelmäßige Waschen des Körpers und der Kleidung war, um etwas Selbstwertgefühl zu bewahren.

Das Feedback der Jugendlichen spricht für sich: „Erschreckend, dass mit Menschen so etwas Schlimmes gemacht wurde“, meint eine Schülerin zum Schicksal der KZ-Häftlinge. Was das Webinar selbst angeht, sind sich die meisten Neuntklässler einig: „Gut, dass es trotz Corona stattgefunden hat.“ und „Hat echt emotional aufgewühlt!“ Sie betonen aber, dass die Webinare einen Besuch der KZ-Gedenkstätte nicht ersetzen. Mehrmals äußern sie deshalb den Wunsch, dass die Exkursion nach Flossenbürg irgendwann noch einmal nachgeholt wird, damit sie sich die Überreste des Konzentrationslagers und die Ausstellungen vor Ort direkt ansehen können.